Seescheiden, die kopflosen Meeresbewohner
Waren wir anfangs nichts weiter als ein schwimmender Darm? Manche Meeresforscher behaupten das. Alles Leben ist im Meer entstanden, darin sind sich alle einig. Im salzhaltigen Blut unserer Adern tragen wir diese Vergangenheit mit uns herum. Deshalb sind wir mit den meisten Lebewesen im Meer verwandt. Besonders augenscheinlich wird das bei einem Geschöpf, das nur aus einem Mantel, einem Mund und einem After besteht. Eine auffällig rosafarbene Art lebt vor der Küste von Ostafrika. Sie sorgt im Roten Meer jedes Frühjahr unter Wasser für ein seltenes Schauspiel: Hier bilden sich zwischen Februar und April Kolonien von Seescheiden, die nur hier vorkommen. Sie organisieren sich zu 20 Meter langen Ketten, die durch das Wasser schweben, auf der Suche nach einem Ankerplatz. Haben sie sich erst einmal mit ihren Saugnäpfen irgendwo festgesetzt, bleiben sie für immer an diesem Ort. Fortan konzentrieren sie sich nur noch auf zwei Dinge: Fressen und Fortpflanzen. Was uns dieses simple Wesen erzählt? Eine ganze Menge über unsere Evolution. Es bildet die vielleicht wichtigste Entwicklungslinie der Evolution. Alle Wirbeltiere, einschließlich uns Menschen, sind aus der Seescheide hervorgegangen. Woraus Forscher das schließen? Aus der Ausbildung spezieller Organe. Bei den roten Seescheiden rechts oben im Bild sieht man deutlich die Mundöffnung und den Darmausgang. Wo aber befindet sich der Kopf?
Die Seescheide – ein hochleistungsfähiges Zwitterwesen
Seescheiden sind Zwitter, sie besitzen Eier und Spermien zugleich. Sie können zur Befruchtung also wahlweise ihre Eier oder Spermien einsetzen. Einmal befruchtet, bringen sie Larven hervor, kaulquappenartige Wesen, die einige Wochen durch das Meer treiben, ehe sie sich niederlassen. Bis dahin haben die Larven evolutionstechnisch gesehen noch alle Entwicklungsmöglichkeiten: Sie besitzen einen muskulösen Schwanz, einen gut entwickelten Nervenstrang samt Gehirn mit Augenflecken und anderen Sinnesorganen. Vor allem aber verfügen sie über ein knorpeliges Stützgewebe, die sogenannte Rückensaite oder Chorda. Es gibt hunderte Arten von Seescheiden, in hunderten Farben und Formen. Diese links oben im Bild bildet gerade eine Kolonie aus. Die größte ist die sogenannte "Amme", aus ihr gehen alle Kolonienbewohner hervor.
Simplify your Life – das Erfolgsrezept der Seescheide
Auch wir Menschen besitzen für kurze Zeit diese Chorda - als Embryos! Schon sehr früh entwickelt sich daraus die Wirbelsäule. Nicht so bei der Seescheide: Kaum hat sich die Kaulquappe an ihrem zukünftigen Wohnort festgesetzt, beginnt sie sich zurückzuentwickeln. Ganz nach dem Motto: Simplify your life! Der Schwanz wird resorbiert, Muskeln und Nervenstrang fallen weg. Auch für die Rückensaite besteht kein Bedarf mehr. Am Ende frisst die Seescheide sogar ihr eigenes Gehirn. Als festsitzendes Manteltier muss es nur noch Nachkommen produzieren und Plankton filtrieren. Dazu benötigt die Seescheide nur noch einen großen Mund, einen After, und dazwischen einen gewaltigen Fressapparat: den Kiemendarm. Ihren Namen „Strudeltier“ hat sie daher, dass sie durch ihren Körper, der mit Tausenden von Wimpern versehen ist, jeden Tag Hunderte von Litern Meerwasser durchstrudeln lässt. So filtert sie Meerwasser und trägt zur Reinigung der Meere bei. Links oben siehst die eine Seescheide, die von einer Nacktschnecke eingenommen wird. Die Schnecke legt hier gerade ihre Eier ab. Was wohl die Seescheide davon hält?
Schon gewusst? Die Seescheide lebt seit vielen Millionen Jahren auf der Erde, wir Menschen seit etwa 2,5 Millionen Jahren.
Hier siehst du eine Seescheide unter dem Mikroskop