Die zwei Stieftöchter

Ein Märchen aus Ostafrika

Äthiopischer Kaffeetopf

Es war einmal ein Mann, der hatte drei Kinder: zwei Töchter und einen Sohn. Nachdem er deren Mutter verstoßen hatte, heiratete er eine andere Frau. Diese hatte eine große Tochter von einem anderen Manne. Es gelang ihr nicht, dieser Tochter einen Gatten zu verschaffen, weil das junge Mädchen einen kahlen Kopf hatte. Es kamen jedoch zwei junge Männer, die die älteste Tochter aus der ersten Ehe des Mannes Frau heiraten wollten. Deshalb begann die Frau die Nachkommenschaft ihres Gemahls zu hassen.

"Es ist gut, ich werde meine Kinder zu einem Verwandten bringen", sagte der Gatte. Er nutzte die nächste Gelegenheit, als seine Frau in eine andere Gegend reisen musste, und versteckte seine Kinder in dem Vorratsspeicher, in dem er die Kichererbsen aufbewahrte. Als seine Frau zurückkehrte, fragte sie: "Nun also, sind Deine Kinder fort?" "Ich habe sie zu einem Verwandten gebracht", antwortete der Gatte.

Der Vorratsspeicher hatte einen Deckel. Der Gatte sprach zu seiner Frau: "Wirf ein wenig von allem, was Du isst, in den Speicher für den Geist, der sich bei unserem Hause aufhält." Die Gattin warf daher vor der Einnahme jedweder Nahrung etwas in den Speicher, und so war für die Kinder gesorgt. Eine der beiden Töchter war sehr besonnen, sie riet den anderen: "Sprecht nicht!" Und sie lebten auf diese Weise, indem sie Kichererbsen aßen. Ihr Vater vergaß auch nicht, ihnen Wasser zu geben. Die Frau dachte, dass die jungen Leute fort wären und lebte so zufrieden

Eines Tages erschien eine Frau, um sie zu frisieren. Sie bereiteten Gänfo. Während sie aßen, nahm die Schwiegermutter eine Portion und warf sie noch kochend zu den jungen Leuten. Die Gänfo fiel auf das kleine der beiden Mädchen, das verbrüht wurde und zu wimmern begann. Die Frau hörte es und sagte voller Wut: "Er hat dort seine Kinder versteckt und spottet meiner." Dann sprach sie zu der Friseuse: "Was sollen wir tun?" Die andere riet ihr: "Lassen wir Wasser in einem großen Gefäß kochen und schütten wir es über sie aus."

Eines der Mädchen hatte diesen Rat gehört und stieß ihre Schwester und ihren Bruder in eine Ecke, auf dass sie nicht verbrüht würden. So blieben die Kinder unversehrt, als die Stiefmutter das kochende Wasser in den Speicher schüttete. Das Wasser fiel vielmehr auf die Kichererbsen, die dadurch genießbar wurden, und die Kinder konnten sich satt essen. Am nächsten Tag wollte sie sich vergewissern, ob die Kinder wirklich tot wären.

Als sie feststellte, dass sie noch lebendig waren, wurde sie zornig und sprach zu ihrem Gatten: "Bring deine Kinder von hier weg. Bis jetzt hast du sie vor mir verstreckt, und hast dich über mich lustig gemacht." Der Vater nahm seine Kinder und zog mit ihnen los. Er lief und lief, es wurde  Mittag und sie ruhten sich im Schatten einer Sykomore aus.

Bald schliefen die Kinder vor Müdigkeit ein. Der Vater schlich sich leise davon. Alle Vorräte liess er zurück, damit sie nicht Hunger leiden mussten. Als die Kinder am Abend die Hyänen heulen hörten, erhoben sie sich entsetzt. Von den Mädchen war die ältere sehr schlau. Die Jüngere hingegen war sehr einfältig. Auf den Rat der Älteren kletterten die Kinder auf einen Baum und verbrachten dort die Nacht.

Als der Morgen dämmerte, stieg die Große herab und machte sich auf die Suche nach Nahrung. Sie gelangte an einen Ort, an dem ein Menschenfresser hauste. Es war einer von denen, die wirklich alles und jeden essen. Er besaß viel Vieh und hütete es. Der mittlere Pfahl seiner Hütte war aus Eisen. Er hatte auch einen Bratplatz aus Eisen.

Während er nun das Vieh hütete, drang sie in das Haus ein, bereitete ein Fladenbrot, nahm Dickmilch und brachte alles in Eile ihrem Bruder und ihrer Schwester. Für längere Zeit beschaffte sie so Nahrung für sich und ihre Geschwister. Eines Tages sprach die kleine zu der größeren Schwester: "Wo hast Du das alles her bekommen? Ich gehe dieses Mal!" Und sie begab sich dorthin.

Sie bemerkte nicht den Pfahl und den Eisenbräter und zündete grünes Holz an. Der Menschenfresser sah den Rauch, lief herbei und steckte das Mädchen in einen großen Schlauch aus Haut, hing sie am Mittelpfosten auf und ging hinaus auf der Suche nach Holz, um sie zu braten. Die ältere Schwester bemerkte, dass ihre Schwester längst zurück sein müsste und ging zur Hütte des Menschenfressers. Sie fand ihre jüngere Schwester hilflos in dem Schlauch hängen. Nachdem sie sie aus dem Schlauch befreit hatte, füllte sie den Boden mit Sprengsteinen, kochte wie immer die Nahrung für sich und ihre Geschwister und kehrte danach mit ihrer Schwester an ihren gewohnten Ort zurück.

Als der Abend hereingebrochen war, zündete der Menschenfresser ein Feuer an und warf den Schlauch mitsamt seinem Inhalt hinein. Der Schlauch zerbarst, und die darin enthaltenen Steine trafen ihn am Herzen und töteten ihn. Am Morgen fand ihn das junge Mädchen tot am Boden. Die Geschwister nahmen das ganze Vieh und Geld in Besitz und richteten sich in dem Haus ein.

Das junge Mädchen war sehr umsichtig. Als sie gefragt wurde, wem das Vieh gehörte, das sie weidete, antwortete sie, dass es dasjenige ihres Vaters wäre. So verging lange Zeit.

Die zweite Schwester, die Dumme, wollte das Vieh weiden lassen. Sie traf einen Mann, der sie fragte: "Wem gehört das Vieh, das Du weiden lässt?" "Es gehörte dem Menschenfresser. Meine Schwester hat diesen getötet, und wir haben das Vieh geerbt", antwortete sie ihm.

Der Mann riss Blätter ab und gab sie ihr, indem er sprach: "Verstreue eines nach dem anderen auf dem Weg  zu Deinem Haus." Das Mädchen machte sich auf den Heimweg und verstreute die Blätter wie aufgetragen. Und so erschien am Abend der Mann, von den Blättern geführt, an ihrem Haus und bat um Gastfreundschaft. Er verbrachte dort die Nacht und heiratete bald die Ältere. Anschließend fanden sie einen Gemahl für die Kleine.

An einem anderen Tag begegnete die Ältere ihrem Vater, der sie verlassen hatte und der nun Almosen erbat: "Wie, Du bettelst? Du hast keine Kinder?" fragte ihn die schlaue Frau. "Ich hatte welche", antwortete er, "aber ich habe sie verloren." Infolge der Schilderung, die er ihr gab, erkannte sie ihn und sagte ihm: "Ich bin Deine Tochter!" Sie umarmten sich lange und weinten. Danach lebte dieser Mann in sehr ehrenwerten Umständen.